Mit psychischen Erkrankungen* ist es wie mit einem Ganzkörper CT.
Nur weil man noch nie durchleuchtet wurde, heißt das nicht, dass da nichts ist.
Jeder von uns hat seine Macken, Eigenarten und Spleens. Und wenn es drauf angelegt wird, findet jeder im seine Eigenart als “Krankheitsbild*”.
Nur weil jemand noch nie in Therapie war, heißt das nicht, dass es da nicht viel zu therapieren gäbe. Jeder von uns kennt doch Menschen, auf die die Äußerung: “Der verhält sich doch bitte nicht normal!” passt.
Ich sage nicht, dass all jene auf ewig in Therapie gehören und sofort als “krank” diagnostiziert werden sollen. Im Gegenteil.
Ich sage nur:
An alle, die keine Diagnose haben (weil da schlichtweg kein Diagnostiker dran war), heißt das nicht, dass ihr normaler / gesünder seid, als jene, die bereits einen Befund haben erstellen lassen und seit Jahren in Therapie sind. Genau jene, sind meist die selbstreflektiertesten Menschen und arbeiten an ihrer Psyche und ihrem Denken – mit einer außenstehenden Person.
Dies stellt insofern einen Unterschied dar, dass ein Therapeut oder Berater unbefangener mit einem spricht, als ein Freund, der einen womöglich noch bestärkt in einem „falschen“ Verhalten.
Auch dies ist kein Regelfall, kann aber so stattfinden.
Kranke Anteile in der Psyche hat jeder, eine “psychische Erkrankung” nicht (offiziell)!
Jedoch ist der Umgang mit jenen, die diese auch offen artikulieren oft ein vorbelasteter.
Ein Beispiel: Vergangenes Jahr war ich mit ein paar Freunden in einer Bar. Einer von ihnen, ein taffer, immerzu lustiger Typ, mit einem bissigen Humor. An jenem Abend ging es ihm aber nicht gut und er war geradezu weinerlich und empfindlich. Alle waren verwundert und dachten: „Da muss was schlimmes passiert sein!“ und versuchten ihn aufzuheitern.
Nur wenige Wochen darauf erging es einer Freundin genauso. Eine Angehörige war verstorben, doch sie schloss sich unserer Gruppe trotzdem an, um sich ab zu lenken. In unserem Freundeskreis hatte sie sich uns vor vielen Jahren schon anvertraut, dass sie ab und zu an Depressionen leidet und auch sonst eher feinfühlig ist. Ich habe einen besonders starken Bezug zu ihr und man kann sich nicht vorstellen, wie oft ich an dem Abend hinter ihrem Rücken gefragt wurde: „Ist das ihre Krankheit? Wie sollen wir reagieren?“
Ich war eigentlich sehr getroffen, weil es mich schockierte, dass ein Mensch mit einer Krankheit sofort nur noch darauf reduziert wird, selbst wenn ein guter Grund vorhanden ist, sich auch mal abseits der „Norm“ zu verhalten. Und bei einem anderen, der sich „gesellschaftlich angepasster“ verhält, traut man ihm nur zu, dass „etwas Schlimmes passiert sein muss“, das sein Verhalten rechtfertigt.
Ich hörte mal den Vergleich: „Wie wenn ein schwer kranker Mensch einmal niest: Sofort schrillen die Alarmglocken ‚Oh nein, jetzt verlässt er uns gleich‘!“ Oder „ein trockener Alkoholiker, wenn er eines Abends überdreht anruft und jeder gleich darauf schließt ‚Der muss schon wieder getrunken haben!‘“.
Da fällt mir wieder der Chef einer guten Freundin ein, dessen Stimmung meist radikal kippt. Er hat Vorstellungen und Erwartungen, fast ausschließlich utopisch und unrealistisch. Er ist uneinsichtig, stur und vom Wesen her, selbst bei guter Laune, mehr als nur gewöhnungsbedürftig und unberechenbar. Doch, da er ein erfolgreicher Mann ist, der eine große Firma leitet und ja ein Ansehen hat, akzeptieren ihn alle mit der Begründung: „Er ist halt exzentrisch!“ oder „Das ist halt der Stress!“ was seine Art für harmlos und fast bewundernd speziell abtut und sogar gut heißt.
Rein psychologisch betrachtet, wäre er aber ein Paradebeispiel für einen schwer therapierbaren Charakter, der in einer psychiatrischen Anstalt besonders intensiv im Auge behalten werden würde.
Quasi, als würde man, sobald man in dieser Sparte anstreift (Psychiatrie etc.) ohnehin immer kleben bleiben, wie an einem Fliegenfänger. Denn:
Jeder hat ja etwas! Und man würde selbst als „Normalo“ 5 verschiedene Medikamente benötigen, um sich zu stabilisieren. Hierzu fällt mir ein Experiment ein, das mal in England gemacht wurde und zu einer Dokumentation verarbeitet wurde:
Um die 15 Probanden wurden zusammengestellt, teils Menschen mit einer psychischen Erkrankung, teils als gesund befundene. 5 Spezialisten sollten jene Probanden 14 Tage lang bei verschiedensten Tätigkeiten, vor allem der Interaktion miteinander beobachten und erkennen, welcher von ihnen gesund und welcher krank wären.
Schon beim ersten Zusammentreffen der Probanden glaubten zwei der Psychiater, eine Person für depressiv und emotional instabil zu erkennen, welche sich später schlichtweg als schüchtern heraus stellte. Eine andere wurde bei einer Schnitzeljagd, als Bipolar geglaubt, weil sie erst euphorisch die Gruppe leiten wollte, dann aber schnell zusammen sackte, als ein anderer ihr, im Eifer des Gefechtes, die Karte aus den Händen riss und das Kommando übernahm. Diesem wiederum schrieben alle Psychiater mit einer hohen Wahrscheinlichkeit eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu.
Tatsächlich war dieser Mann in hohem Ausmaß geprüft und begutachten worden und keineswegs vorbelastet. Es war schlichtweg sein Beruf, der ihn dominant und durchgreifend auftreten ließ, da er seit vielen Jahren als Führungskraft einer Firma tätig war.
Ca. 4 Personen wurden als psychisch krank erkannt und man lag richtig, viele andere wiederum wurden einer Krankheit bezichtigt, bloß weil ihr Charakter oder ihre Verhaltensweise in speziellen Situationen darauf schließen ließ.
Dies bringt uns auch schon zu einem weiteren Punkt dieses Artikels:
Der selektive Wahrnehmung:
Jeder von uns hat sie. Sie findet im Reptilhirn, oder auch Hirnstamm statt und verhilft uns dazu, zu überleben. Als es noch wichtig war, als Jäger und Sammler zu überleben, half uns diese Fokus-Funktion, schnell auf gewisse Merkmale zu achten und sie regelrecht heraus zu filtern. Doch nicht nur beim Sortieren der Wäsche hilft die suggestive Methode. Wir treffen sie allzeit im Alltag an.
Kürzlich hatte sich eine Bekannte von mir die Haare rot färben lassen, weil sie der Meinung war, keiner trage heute noch knallrot gefärbte Haare und daher strebe sie, als Rebellin, dies an.
Kaum war sie nach dem Friseur mit ihrer neuen Frisur auf die Straße getreten, liefen ihr zwei rothaarige Mädchen entgegen, in der U-Bahn sah sie zwei und sogar im Stiegenhaus traf sie eine ältere Dame mit Purpur roten Locken an.
Was war der Grund dafür? Kein spontanes Nachahmen der Menschen in ihrem Umfeld.
Es war ihre selektive Wahrnehmung. Die neue Haarfarbe stand so sehr im Vordergrund ihrer Wahrnehmung und ihres Bewusstseins, dass sie schlichtweg darauf aufmerksam wurde, wenn sie diese auch im Umfeld antraf.
Uns allen wurde schon mal gesagt “Sowas fällt auch nur dir auf!” und jeder von uns hat Dinge, die ihn sehr intensiv in seinem Leben begleiten, weshalb man stärker darauf reagiert, als andere.
Tiefer gehend wäre diese Wahrnehmung, wenn sie sich durch den Beruf ausprägt. Eine Bekannte von mir, Psychotherapeutin, sah in jedem Menschen seine möglichen Kindheitstraumata und fehlerhaften Verhaltensweisen. Selbst bei einem Date, wog sie ab, ob die Seele ihres Gegenübers mehr oder weniger kaputt sei und ob sie das Risiko einer Beziehung eingehen könne.
Sie hat den Beruf aus genau diesem Grund später auch gewechselt.
In einem anderen Versuch, wurde einer Gruppe Männer gesagt, sie würden eine Gruppe von Frauen treffen und eine von ihnen, habe bis vor ein paar Jahren noch als Mann gelebt und habe sich um operieren lassen. Jede der Frauen wurde von den Männern verdächtigt, diejenige welche zu sein.
„Margreth muss es sein, ihre raue Stimme hat sie ja bis jetzt nicht abgelegt.“
„Ich glaube, es ist Lucy, ich habe ihren Adamsapfel gesehen!“
„Susie, ganz klar. Ihre großen Hände und der riesige Schädel, die könnte mich ja jetzt noch platt machen.“
„Nancy, die ist so dominant und wirkt so stark…“
Letzten Endes, waren sie alle Cis Frauen!
Lediglich der Hinweis, ließ die Männer alles Erdenkliche in die eine Richtung dahin gehen, dass sie etwas suchten und somit auch fanden. Merkmale, die sie zu bemerken glaubten, was zu einem sicheren Verdacht führte.
Neben dem Rosenhan-Experiment, gab es auch eines, in welchem sich ein Mann in die Psychiatrie einweisen lies, um Recherchearbeit für seinen Artikel zu leisten. Er verhielt sich nicht anders als sonst. Er wurde aufgenommen, erhielt drei mögliche Diagnosen und mehrere Medikamente.
Es geschah eines Tages, dass ein Mitpatient Streit anzettelte und jener Autor (Inkognito), setzte sich verbal zur Wehr. Die Situation geriet so aus dem Ruder, dass der Autor, der keinerlei Schuld an der Auseinandersetzung hatte und diese „genauso diskutierte, wie er es auch immer mit seinem ehrenwerten Chef handhabe“, in ein Gitterbett verbannt wurde und ihm mit Beruhigungsmitteln gedroht wurde, wenn er sich nicht beruhige. Das Personal schien zu glauben, seine Reaktion wäre ausschließlich eine krankhafte Anwandlung, die sofort behandelt/unterbunden gehöre.
In der Welt draußen, haben Menschen (vor allem jene, die Macht haben oder meinen, sie zu haben) viel Schlimmeres getan und wurden deshalb nicht zu Recht gewiesen, geschweige denn mundtot gemacht.
Nachschlagewerk:
– Das Rosenhan-Experiment schildert hier auch sehr kuriose Fakten, die einen nachdenklich werden lassen.
– Der Pygmalion Effekt
Fazit: Wir sehen also, durch Erwartungen werden Ergebnisse beeinflusst.
Beispiel:
„Wenn du so negativ denkst, wird auch was negatives passieren. Einfach deshalb, weil du dann regelrecht darauf wartest und es aufbauschen wirst, wenn es dann da ist!“
„Derjenige, der das Haar in der Suppe sucht und keines findet, wird so lange den Kopf schütteln, bis eines hinein fällt…“