Mein innerer Kritiker

Da tauchte er mal wieder unerwünscht auf und heftete sich an meine Fersen… der immerzu nörgelnde Kritiker, der mir so manche schlaflose Nacht bereitet hat.
Seit ich denken kann (und das meine wortwörtlich!), sitzt oder steht er immerzu neben oder hinter mir und kommentiert alles mit seiner spitzen Zunge. Meist meine Worte, Taten und sogar Gedanken, aber er macht auch nicht vor Außenstehenden halt. Er ist unbarmherzig und lieblos. Ein arg unangenehmer Gast also.
Manchmal vergisst er auf mich. Vor allem, wenn ich mit meiner alt bekannten Runde ins Pub gehe und mich einfach nur amüsiere. Wenn er da nicht mit von der Partie ist und ich nicht mehr in seinem Schatten stehe, blühe ich vollkommen auf. Ich werde dann als witzig, charmant und entspannt erlebt, fühle mich neugierig, aufgeschlossen, redegewandt und schlagfertig. Kurzum, ich fühle mich dann einfach gut und kann, ohne Bedenken sagen und tun, was ich will. Und dieses Freiheitsgefühl stimmt mich durch und durch positiv gelaunt und motiviert.
Doch Zuhause sitzt er dann in der düsteren Ecke und erwartet mich schon mit trippelten Fingern, um mir so manches an den Kopf zu werfen. Und bei meinen nächsten Terminen, selbst dem gemütlichen Sonntagsbrunch, vermiest er mir dann, indem er mich so hart ran nimmt, dass mir hören und sehen vergeht. Man möchte meinen, umso älter man wird, umso unabhängiger wird man und lernt sich aufzubäumen und sich zur wehr zu setzen. In dem Fall nicht:
Er impfte mir so gekonnt ein, dass ich auf ihn hören müsse und er recht mit seinen Diskriminierungen habe, dass ich augenscheinlich nicht mehr fähig bin, diesen Glauben abzulegen. Selbst als Erwachsener.
Dann erdrücken mich die Schuldgefühle und der Scham vor mir selbst so sehr, dass ich still und introvertiert werde, mich gehemmt, verbittert und endlos traurig fühle. Diese Trauer vermischt sich dann oft mit Wut und die Anspannung wächst ins Unermessliche: Stresspegel auf 120%.
Das grübeln läuft dann in Dauerschleife, ich kusche, um nichts falsches zu sagen und in mir schallen so laute und harte Worte, dass mein Herz innerlich explodiert. Die Angst nimmt dann Überhand.
Als stünde der hoch geladene Vater hinter einem und man kann nur ahnen, wann der Schlag auf den Kopf kommt und wie sehr er schmerzen wird, aber der Trommelwirbel bis dahin ist unerträglich.
Wie soll man die Eigenschaft ablegen, konfliktscheu zu sein, wenn jeder Konflikt tage- und nächtelanges verprügelt werden vom inneren Kritiker bedeutet. Man will keine Konflikte und sich eventuell Feinde machen in der Welt da draußen, wenn man bereits zusammengenäht mit seinem größten Feind lebt. Einer reicht und schon der bringt einen fast um den Verstand.

Ich war ein auffällig braves Kind. Klingt nach dem Traum aller Eltern, aber es war krankhaft und das ist es bis heute. Wissen Sie, wie es ist, wenn man Zeit seines Lebens STÄNDIG Angst hatte, erwischt zu werden, bei was auch immer? Jedes Kind hat mal Flausen im Kopf und jedes Kind, jeder Jugendliche und junge Erwachsene BRAUCHT gewisse Dummheiten und Fehltritte, um daraus lernen zu können. Meine fanden immer nur in meinem Kopf statt. Verdammt nochmal, ich traue mich nicht mal nachts um 2, wenn kein Mensch und kein Fahrzeug weit und breit zu sehen/ hören ist, über einen 1 Meter  Zebrastreifen zu laufen, wenn die Ampel auf rot steht. Einmal stand ich nachts an einer solchen Ampel und sie war defekt und wurde nie grün. Es war die Symbolik für meine Angst. Ich werde niemals weiter gehen können, wenn ich mich von kleinsten, defekten Warnsignalen an der Nase herum führen lasse.
Dass ich nicht heute noch an dieser Ampel stehe, liegt daran, dass ich damals all meinen Mut zusammen raffte, als würde ich gleich einen Fallschirmsprung wagen und schnell über die weißen Blöcke hüpfte, als wären sie Lava. Kürzlich führte ich Biomüll zum Kompost, in dem sich ein paar kleine Steine befanden, weil es schlichtweg nicht möglich war, diese heraus zu filtern oder zu sieben. Ich fühlte mich, als würde ich eine Leiche weg transportieren.
Und mich plagt auch immerzu das Gefühl, wenn ich dann EINMAL (!) etwas “unrechtes” tue, werde ich sofort erwischt. Als würde alle Welt nur darauf lauern, dass ich mir einen Fehltritt erlaube und nicht genug, dass ich und mein Kritiker mich dann wochenlang mit Liebesentzug und Vorwürfen strafen, werde ich vielleicht auch noch erwischt und von außen auch noch getadelt.
Ich beneidete die anderen Kinder, die laut am Spielplatz schrien, sich fallen lassen konnten, einfach Spaß hatten. Selbst wenn weit und breit keine Mutter zu sehen war, hatte ich immerzu Angst, jemand würde meiner Mutter oder dem Jugendamt erzählen, dass er mich heute bei der Bushaltestelle Nasenbohren gesehen hat oder ich mit meinen Zehen die gelbe Linie beim U-Bahn-Steig striff und dass ich wieder ins Kinderheim muss, weil ich so “unbelehrbar und nicht zu bändigen” wäre, dass dies harte Maßnahmen bedarf.
Bis heute, trage ich diese Maske mit mir:
Immer artig sein, keine Fehler erlauben, niemals (egal welcher Anlass, selbst wenn mich gerade jemand ausraubt!) im Ton vergreifen, nicht laut sein (NIEMALS NIE!!!) und die Mimik kontrollieren.
Mutter schimpfte mich oft aus, wegen Banalitäten, wie ich heute weiß und wenn ich dann besorgt war, schrie sie noch lauter: “Wennst jetzt so deppat schaust, knall ich dir eine!”
Ich, ängstlich ein Lächeln hervor zwinge: “Ok, entschuldige!”
“Grins nicht so schirch, sonst bleibts da!”
Mundwinkel wieder nach unten: “Geh mir aus den Augen, mit dem Gfries..!”
Keine Ahnung, wie ich es auch machte, es war falsch:
Keine Mimik wurde als “eingeschlafenes, fades Aug” veschimpft, lächeln als “hönisches Grinsen”, normal schauen, als allgemein “schirches Gfries!”

Der innere Kritiker erlaubt es mir nicht, laut zu sein, also ertrage ich Lärm auch nicht. Er verbietet mir “frech” zu sein, also ertrage ich vorlaute Menschen überhaupt nicht. Ich kann mich nicht mal in der Nähe aufhalten, von Menschen, die “reden, wie ihnen der Mund gewachsen ist. Und wenn sich jemand dadurch provoziert fühlt oder beleidigt, ist das seine Sache- Pech!”
Egoistische, nach Macht strebende Menschen ersticken mich mit ihrer Art und Menschen, die die einfachsten Höflichkeitsregeln nicht leben, rauben mir nachts den Schlaf.
Fazit: Sämtliche Regelverstöße, von kleinen Unartigkeiten, bis hin zu Gesetzesverstößen, kann ich schlichtweg nicht ertragen. Selbst in Film und Fernsehen, bin ich manchmal allein mit der Fiktion einer Schandtat überfordert.
Mein innerer Kritiker bläst jene Geschehnisse so dermaßen auf, dass sie in meinem Kopf überquellen und mir Herzrasen bereiten, einfach weil sie nicht in meine SCHABLONE von DAS GEHÖRT SICH passen. (Siehe auch: “Die Schablone in meinem Kopf”)
Ich solle lernen, den inneren Kritiker und Nörgler zu akzeptieren und dann MIT ihm zu arbeiten, auf selber Augenhöhe und dennoch unidentifiziert, statt mich von ihm beherrschen zu lassen.
Doch das ist schwer, extrem schwer. Ich frage mich, wie dezimiert meine Gedanken pro Tag dann wären, wenn ich nicht seine auch ständig in meinem Kopf herum geistern hätte. Wie angenehm viel Luft da hinzu kommen würde und Ruhephasen. Wenn der Stress auch mal von mir lassen würde und ich ICH sein könnte. Aufgrund einiger Erfahrungen und Beobachtungen, denke ich nämlich, dass ich ohne dem Kritik-Kollegen ein sehr angenehmer, entspannter und klar Denkener Genosse wäre. Und jeder, der mich näher kennt (das sind nur seehr wenig Menschen), weiß, dass ich ein immerzu überspannter, oft verwirrter Charakter mit viel zu vielen “aber was, wenn..”s in meinem Kopf bin.
Wie sich der Kritiker, der ständige Nörgler und Missachter, der mich misshandelnde Teil in mir, verändern und vielleicht ja sogar mildern würde, wenn ich lerne, ihn zu akzeptieren und zu zügeln und an erster Stelle mal, als Teil von mir und nicht als mein ganzes Ich zu sehen, werde ich erst sehen, wenn ich es wage, mich gegen ihn aufzulehnen.
Aber vorerst, muss ich heimlich bisschen trainieren gehen…

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