Die Adler’sche Psychologie

Stellungnahme zu dem Buch “Du musst nicht von allen gemocht werden”

Eines von Alfred Adlers Psychologie entstammenden Zitates lautet: “Wir können uns in nur 14 Tagen von unseren Depressionen befreien, wenn wir uns nur jeden Tag überlegen, wie wir anderen helfen können“.
Anderen Menschen zu helfen, steigert das Selbstwertgefühl und lässt uns unsere eigenen Sorgen vorübergehend beiseiteschieben. Dennoch wird ein, von Depressionen geplagter Mensch durch intensive Ehrenarbeit z.B. dennoch abends ins Grübeln kommen bzw. seine Depressionen nicht dauerhaft ausblenden können.
Berücksichtigt man hierbei auch die Biologie und Sinnhaftigkeit unseres Gehirns (genauer gesagt, des Reptilhirns), so kann diese Aussage doch nicht so realistisch sein, wie angegeben.
Es ist schon wahr, dass der Mensch ungeheure Kapazitäten aufweist und viel Neues erlernen kann, bis ins hohe Alter. Das Gehirn ist prädestiniert dazu zu lernen. Doch was neue Verhaltensweisen angeht, ist dies schon schwieriger. Wie Matthias Fischedick es auch beschrieb, ist unser Gehirn seit Urjahren darauf ausgerichtet, als „wirkungsvoll“ erachtete Verhaltensweisen zu speichern und als „Gewohnheit/Routine“ stets schnell abrufbereit zu halten. Auch die Neurowissenschaft würde eine solche Aussage Adlers belächeln, spielen doch diverse Hormone bei einer Depression eine Rolle. Diese können zwar mittels Verhaltensweisen (bei Depressionen an die frische Luft gehen, Sport, Sonnenbaden) beeinflusst werden, jedoch nur bis zu einem gewissen Grad. Ein Mensch, der seit Jahrzehnten an Depressionen leidet, wird binnen ZWEI Wochen wohl kaum absolut depressionsfrei ist, weil er Adlers „Therapie“-Methoden anwendet. Denn Depressionen bestehen aus schlechten Gefühlen, Ängsten und Gedankenkreisen, die automatisiert ablaufen.
Hierzu gehören dennoch die Reflektion über die Ursache (nicht um diese zu zerkauen, sondern lediglich, um den Ursprung zu kennen und vielleicht sogar zu verstehen), als auch das professionelle Arbeiten an möglichen Änderungen und Zielen.

Auch die Behauptung, Traumata existieren nicht, halte ich für eine starke Aussage, die allgemein viel zu extrem ist. Würde, wie Adler behauptet, kein Trauma existieren, würden wir als Erwachsene regelmäßig mit verbrannten Händen durchs Leben laufen, weil wir uns niemals EINGEPRÄGT hätten, dass man nicht auf die heiße Herdplatte fasst. Doch tatsächlich ist es so, dass sich das Stammhirn, vor allem schädliche Erlebnisse einprägt, um uns zukünftig vor Verletzung und dem verfrühten Tod zu schützen- der alt bekannte Überlebensinstinkt. In diesem Teil des Gehirns, speichern wir auch Routine ab, Gedanken und Aktionen, die wir automatisiert ablaufen lassen. Das ist der Grund, warum wir einmal Autofahren erlernen und es dann immerzu beherrschen. Wir müssen nicht jedes Mal erst neu überlegen, wo welches Pedal ist und wie man losfährt oder stehen bleibt. Genauso wie essen, gehen, schlucken, sprechen und vieles mehr, das wir bereits sehr früh erlernen und automatisieren.
Leider oder zum Glück – je nachdem, erlernt unser Gehirn dies auch in anderen Bereichen.
Wurde ein Kind von einem Mann unzüchtig angefasst, vielleicht vergewaltigt, so wird sie/er von da an IMMER Angst/ Stress/ Scham / Wut empfinden, wenn er/sie wieder auf jenen Mann trifft. Es sind die Alarmglocken im Gehirn, die sagen: „Der hat dir Böses getan! Um dich davor zu schützen, flieh!“

Nur so konnte der Mensch so lange überleben: Flucht-, Kampf- und Totstellreflex.
All diese Empfindungen, haben wir heute noch. So hoch entwickelt wir nun schon sind, wir schrecken immer noch hoch, wenn es neben uns knallt, bekommen zitternde Beine und Herzrasen, wenn uns jemand verfolgt oder stehen nur dumm da, wenn es eigentlich darum ginge, zu reagieren. Es sind aufkommende Reflexe, die uns mit Adrenalin vollpumpen, unsere Muskeln in Bereitschaft setzen, um schnell zu reagieren. Da wir sie aber seit Jahrhunderten nur noch bedingt brauchen und es gesellschaftlich anders etabliert ist, haben sie sich zurück entwickelt. So wie unser Steißbein und unsere Schwimmhäute zwischen den Fingern und Zehen.

Auch erwähnt der Philosoph im Buch immer wieder, nach Adler, würden wir uns alle unser Schicksal selbst aussuchen und würden Ängste, Abneigungen etc. entwickeln, weil wir uns unbewusst „dazu entschlossen haben“. Beispiel: Wir würden bestimmte Menschen nicht mögen, weil wir uns dafür entschieden haben, sie nicht zu mögen und daher Gründe suchen, um sie ablehnen zu können.
Selbst einige Krankheiten seien angeblich „selbst ausgesucht“!
Nun stellt sich mir nur folgende Frage:
Wie kann es sein, dass jemand, der seine Katzen über alles liebt und keinerlei Nachteile daran sieht, welche zu halten, eine Katzenhaar-Allergie entwickeln, die so ausartet, dass man sie weg geben muss?
Adlers Antwort wäre darauf, man hätte es sich so ausgesucht und wenn man unglücklich damit ist, hätte man sich selbst ausgesucht, unglücklich zu sein, was schlichtweg Ziel dafür sein könnte, dass man sich selbst nicht leiden kann und sich daher durch diese Allergie selbst bestraft.

Am zweiten Abend des Buches (Seite 154/155) erzählt der „junge Mann“ von seinem Chef, der ihn in seiner Arbeit einschränkt, weil er ihn nicht nur nicht lobt (laut Adler ist der Wunsch nach Anerkennung aber nur ein Minderwertigkeitsgefühl bis hin zu einem –Komplex), sondern ihn sogar bloß stellt, ihn übel beleidigt und diskriminiert. Daraufhin meint der Philosoph in etwa: wenn er meine, der Chef schränke ihn so in seiner Arbeit ein, dann wäre dies nur ein innerer Wunsch von ihm nicht arbeiten zu müssen. „Aber eigentlich heißt es: Ich möchte nicht arbeiten, deshalb erschaffe ich mir einen schrecklichen Chef.“ (Seite 155, 1. Absatz)
Wenn mich nun also ein Fremder auf der Straße nieder sticht, soll ich ihm gütig in die Augen schauen und sagen: „Verzeih, ich interpretiere da nur etwas hinein. Wahrscheinlich war es mein Ziel, dass du mich nieder stichst! Es ist meine Schuld, nicht deine. Ich muss Verantwortung übernehmen für das, was mir passiert…“
Und selbst das würde einen Widerspruch darstellen, wenn man nach Adler geht, denn man soll ja kein Minderwertigkeitsgefühl haben und zu allem stehen, andererseits, was wäre das für ein Selbstwertgefühl, wenn ich denken würde, es sei allein meine Schuld, wenn mich jemand willkürlich angreift.
Laut Adler kann man „alles sein“, egal in welchem Umfeld man sich aufhält. Er meint, man müsse lediglich sofort damit aufhören, nach Gründen zu suchen, warum man sich ja gerade nicht ändern kann und sofort eine neue Denk- und Verhaltensweise durchführen.
„…Man kann sich zu jeder Zeit ändern, unabhängig von der Umgebung, in der man sich befindet. Sind sie nur deshalb nicht fähig, sich zu ändern, weil Sie sich entschieden haben, es nicht zu tun.“ (Seite 53, 3. Absatz)

Bei dieser Aussage schoss mir eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern durch den Kopf, die einfach mal aufhören kann verantwortungsbewusst und mütterlich zu sein, weil Adler sagt, sie solle das tun und die Ausreden (ihre Kinder) beiseiteschieben.
Auch leugnet er sämtliche Anlagen. Er meint, egal wo und wie wir geboren wurden, egal was uns mitgegeben wurde oder eben nicht, man kann ALLES sein. Diese Einstellung finde ich sehr schädlich und unrealistisch.
Beispiel Bildung: Freilich, es gibt jene, die vollkommen von den Eltern gesponsert werden, während der Ausbildung noch bei den Eltern wohnen dürfen und eventuell noch leicht lernen.
Und es gibt auch jene, die mit 18 ausziehen müssen, sich beim Lernen enorm schwer tun, trotz Nachhilfe, keine Unterstützung der Eltern bekommen, weder mental, noch finanziell, eine Wohnung und Rechnungen zu bezahlen haben, das Studium und sämtliche Kosten, die damit verbunden sind alleine stämmen müssen, ergo mindestens 30 Stunden/ Woche arbeiten müssen und dann nochmals mehr Stunden für das Lernen aufbringen müssen und gar nicht wissen, wann sie schlafen sollen.
Ja, Hollywood hat auch für diese Sparte eine Lösung gefunden und zeigt kurz nach dem Chaos, eine mit witziger Musik untermalte Szene, in der man sieht, wie sich derjenige abrackert, tut und läuft, büffelt bis in die Nacht, morgens aufsteht und zur Arbeit läuft,… und am Ende der Szene müde, aber zufrieden und natürlich erfolgreich alles gemeistert hat.
Aber so ist das Leben nicht. Ich persönlich finde, dass man realistisch sein muss. Und meine Realität sieht nun mal so aus, das man Grenzen hat und diese auch akzeptieren kann/muss, um dann eine Alternative finden zu können.
Es bringt dem Rollstuhlfahrer nichts, zu glauben, er könne morgen wieder laufen, nur weil er „es denken kann“! Er muss lernen, diesen Umstand zu akzeptieren und kann dann lernen, sich anders fortzubewegen und dies dann vielleicht sogar als einen Vorteil oder zumindest nicht als großes Unglück zu betrachten.
Auf Seite 85 diskutieren der Philosoph und der junge Mann über Chancengleichheit, trotz verschiedener Ausbildungen. Der Philosoph vertritt den Standpunkt: Ganz gleich welche Ausbildung man nicht hat, man hat dieselben Chancen, wie jemand, der diese Ausbildung hat.
Hierzu muss ich ganz klar sagen: Ja, es kommt durchaus auf mehr an, als nur auf die Ausbildung.
Es zählen Erfahrungen, autodidaktisches Können, Charakter, Charisma und wie man sich verkaufen kann. Dennoch empfinde ich es als falsch zu sagen, dass die Ausbildung gar keinen Unterschied macht. Viele Unternehmen heutzutage setzen ein gewisses Profil voraus und man wird gar nicht erst vorgeladen, wenn man dieses oder jenes Zeugnis nicht vorlegen kann. Natürlich könnte man, wie Will Smith im „Das Streben nach Glück“ einfach hartnäckig bleiben und immer wieder in dieser Firma auftauchen und die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und mit allen Mitteln beweisen, dass man der richtige für diesen Job ist.
Wird ein 30 Jähriger jedoch in einem Spital aufkreuzen und meinen, er wäre gerne Arzt und er hätte die Qualitäten dafür, wird dies dennoch nichts ändern, dass er keinen Abschluss hat und wenn er sich das Studium nicht leisten und es ablegen kann, wird er schlichtweg schlechtere Karten haben, als jemand, der ausgebildet ist.
Genauso verhält es sich auch mit komplexeren Themen wie vorbestraften. Natürlich gibt es Firmen, die hier kaum einen Unterschied machen und auf Chancengleichheit setzen. Dennoch werden, realistisch gesehen, mehr als die Hälfte der Firmen wohl eine Ablehnung ausschreiben.

Am ersten Abend (ab Seite 24) erzählt der junge Mann von seinem besten Freund, der sich aufgrund einer Angsterkrankung isoliert und das Haus nicht verlässt, woraufhin der Philosoph ihm einen Vortrag darüber hält, dass dieses Verhalten schlichtweg eine vorgefertigte Entscheidung des Freundes war, das Haus nicht verlassen zu wollen und deshalb habe er Ängste entwickelt. Weiter führt er aus, dass dieser seine Eltern eventuell in Sorge versetzen wolle und deshalb dieses Verhalten an den Tag lege, es also eine Art „Rache“ gegen die Eltern wäre.
Auf Seite 118, letzter Absatz, beschreibt der Philosoph jedoch sich selbst als jungen Mann und dass er keine Freunde hatte:
„Als ich in der höheren Schule war, habe ich nicht mal versucht Freunde zu finden und habe meine Tage mit dem Studium von Griechisch und Deutsch verbracht […]. Meine Mutter machte sich Sorgen um mich und ging ratsuchend zu meinem Klassenlehrer. Er sagte ihr: „Es gibt keinen Grund sich Sorgen zu machen. Er ist jemand, der keine Freunde braucht.“
Über dieses Verhalten wird jedoch nichts Kritisches erwähnt, keine Psychoanalyse erstellt.

Adler behauptet: „Alle Probleme sind zwischenmenschliche Beziehungsprobleme.“ (Seite 72, 2. Absatz)
Und der Philosoph führt aus: „So etwas, wie eine Sorge, die ausschließlich durch das Individuum definiert ist, die nur von innen kommt, gibt es nicht.“ (Seite 73, 2. Absatz)
Hierzu meine Frage: Wie ist es mit Krankheiten?
Unabhängig davon, ob man sich Gedanken um die verbliebenen oder den Tod macht:
Wer würde es nicht als riesiges Problem ansehen, wenn er wüsste, dass er/sie sterbenskrank ist und die nächsten Monate wohl elendiglich qualvoll dahin vegetieren würde… Und sei es auf einer einsamen Insel!? Dies sind keine zwischenmenschlichen Probleme, sondern welche, die man ganz alleine durchstehen muss. Ebenso psychische Erkrankungen und die Sorge eines Selbsterhalters, das Wetter könnte seine gesamte Ernte zerstören.

Für mich stellt der vermeintliche „Philosoph“ keinen Philosophen dar, sondern einen Extremisten, der stur alle Anschauungen Adlers wiedergibt, ohne Rücksicht auf Individuen, vollkommen eingeschränkt und festgefahren. Er denkt nicht über das Leben nach, wägt ab und hat einen breiten Horizont, wie ich es von Philosophen kenne, er wirbt lediglich für Adler und aus ihm sprechen scheinbar die beiden Autoren des Buches, die selbst eingefleischte Adler-Fans sind und seine Psychologie und Philosophie als einzig rechte Weltanschauung sehen.
Es wird gefährlich, wenn angehende Psychologie StudentenInnen oder bereits ausgebildete Psychologen/ Therapeuten, etc. ebenso stur diese Richtung verfolgen. In einer Therapiesitzung, wäre diese Methode fatal und für den Klienten ein Horror.
Das Buch wäre ganz anders rüber gekommen, wenn der junge Mann nicht als der ahnungslose, unausgeglichene Schüler dargestellt worden wäre und der Philosoph als der, aus dessen Mund alles gold und weise ist. Wäre der junge Mann, zum Beispiel als ein Charakter der anderen Anschauung verkörpert worden und die beiden hätten sich auf selber Augenhöhe unterhalten, wäre die Verherrlichung des Adler-Philosophen nicht so dermaßen unangenehm für mich gewesen.

Alles in allem bestimmt einige gute Ansätze darin und ich kann mich durchaus mit so manchem Konzept anfreunden und nachvollziehen, wie es entstand und warum es tatsächlich eine Wirkung haben könnte. Dennoch ist es schlichtweg zu spitz und extrem dargestellt und drängt sich dermaßen auf, als wäre man dazu angehalten, sobald man das Buch bloß fertig gelesen hat, hätte der „Philosoph“ den jungen Mann UND den Leser soweit bearbeitet, dass er niederkniet und alles, was der Philosoph / Adler von sich gegeben hat als richtig und weise anzusehen und sich selbst dafür zu schämen, zuvor noch ein so dummer, ahnungsloser Mensch gewesen zu sein.
Ich betrachte dies schlichtweg kritisch, weil ich meine, nur weil vor dem Doppelpunkt „Philosoph“ steht und nicht „junger Mann“, dass alles wahr und unübertrefflich ist, was danach angegeben wird. Man könnte den Spieß auch umdrehen und der Philosoph könnte etwas von der realistischen Seite des jungen Mannes lernen und nicht auf all seine Geschichten ein Gegenargument haben, warum Adler da anders denken / handeln würde. Beide haben ihre richtigen Ansätze und beide haben falsche Ansichten im Repatoir und das schlichtweg deshalb, weil nicht jeder Mensch gleich ist und nicht jedem Menschen dieselbe Psychologie hilft.
Der Buchtitel „Du musst nicht von allen gemocht werden“ und der Schriftzug auf der Rückseite „Bleib einfach du!“ empfinde ich als sehr falsch gewählt, da das ganze Buch darauf abzielt, den jungen Mann / den Leser, umzuformen und ihm alle Anschauungen und bisherigen Verhaltensweisen als „…Adlers Psychologie ist besser!“ umzuschreiben. Die Autoren scheinen sehr bemüht, einen auf die Seite des Philosophen ziehen zu wollen und will man da nicht hin, hat Adler oder der allwissende Philosoph bestimmt eine „auf alle Fälle korrekte und völlig unvoreingenommene analytische“ Erklärung dafür, welche krankhafte Psychoniesche sich da offenbart und welche Lösung Alfred Adler hierfür aus seinem Zauberhut zücken würde.

Nach ettlichen Ratgebern, die ich in meinem bisherigen Leben verschlungen habe, muss ich sagen, dass mich dieser hier regelrecht schockt. Wahrscheinlich, weil all diese Aussagen von einem Arzt/Psychotherapeuten kamen und so weite Wellen schlugen…
Hier bleibt nur: Abwägen und einen Mittelweg finden!

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