Pension Schöller – Phänomen

Da gibt es dieses Phänomen der SELEKTIVEN WAHRNEHMUNG.
Es ist ein Akt des Gehirns, welches sich auf ein bestimmtes Detail oder einen Reiz FOKUSSIERT.
Nach diesem Prinzip funktioniert schon das alt bekannte Kinderspiel “ich seh, ich seh, was du nicht siehst..”. Bei dem Spiel nennt der Aufgabensteller eine Farbe eines bestimmten Gegenstandes im Raum und die anderen müssen raten, welchen Gegenstand derjenige genau meint. Ebenso funktioniert die selektive Wahrnehmung auch mit komplexeren Dingen. Wann immer etwas in unserem Leben sehr präsent ist, fokussiert sich unser Gehirn darauf und scannt immerzu die Umgebung nach einem solchen oder ähnlichen Muster ab. Menschen, die sich sehr mit ihrem Gewicht auseinandersetzen, werden schneller mal bemerken, ob jemand ebenso gut oder schlecht gebaut ist, wie man selbst und viel Bewertung in Statuen und Körpersilhouetten legen. Menschen, die besonder stolz auf ihre neue, moderne Frisur sind, werden im Umfeld eher bemerken, ob jemand ebenso frisch vom Friseur kommt oder eher nicht. Diese Wahrnehmung reicht bis dahin, dass Menschen, die unter einer bestimmten Krankheit leiden, ebenso feine Antennen haben für Menschen, die womöglich die selbe Krankheit mit sich mit schleppen. Forscher haben beobachtet, dass homosexuelle Menschen regelrechte Radar dafür haben, ob sich in näherer Umgebung eine ebenso homosexuelle Person befindet und diese leichter “erkennen” können. Genau so, entdecken Babys in ihren Kinderwägen schlagartig alle anderen Babys in unmittelbarer Nähe und nehmen oftmals auch Kontakt mit ihnen auf, auch wenn es meist nur Augenkontakt und gegenseitiges Anstarren und Mustern ist.
Nach dieser selektiven Wahrnehmung, gibt es ein Lustspiel aus dem Jahr 1890 von Wilhelm Jacoby und Carl Laufs: Die Pension Schöller.
Kurz und gut: Dem Gast eines Hotels wird weiß gemacht, er sei zu Gast in einer Irrenanstalt und all die anderen Gäste seien vermeintliche “Verrückte”. Er weiß also nicht, dass es sich um ebenso (mehr oder weniger) gesunde Menschen handelt, wie er selbst einer ist. Und so begegnen ihm alle Menschen als irre, ganz gleich ob sie exzentrisch oder angepasst, phlegmatisch oder extrovertiert und gesellig sind… in allen sieht er die, selektiv eingepflanzte Wahrnehmung des Irrsinns.
Diese Thematik warf sich kürzlich in einer Fernsehserie, mit ernsterem Schema wieder auf.
Ein renommierter Doktor lässt sich in einer Folge in eine Psychiatrie einweisen, als vermeintlich psychisch Kranker, um dort insgeheim Forschungen anzustellen. Als die Situation brenzlig wird, versucht er den Oberarzt einzuweihen, doch dieser tätschelt ihm nur den Kopf, verabreicht ihm Tabletten und sagt mit belustigter Stimme: “So, so, ein studierter Doktor auf Geheimmission… Na, dann kommen Sie mal und wir bringen Sie in ihr Zimmer, damit Sie dort weiter “forschen” können.”

Auch im echten Leben habe ich selbst ähnliches beobachtet.
Um meine Traumata zu verarbeiten, begab ich mich selbst in eine Tagesklinik und war erstaunt, als eine Frau mit zerzaustem Haar und verschmierter Schminke in den Aufenthaltsraum kam. Ich erschrak und dachte mir: “Die arme, die hat´s ja wirklich schlimm erwischt! Aber ob sie schon fit genug für die Tagesklinik ist und nicht besser auf der Akutstation aufgehoben wäre…”. Sie war die Oberärztin einer anderen Station und leitete an diesem Tag eine der Gruppen. Sofort änderte sich mein Bild von ihr.
Es war kein: “Typisch, dass sie so aussieht. Immerhin ist sie ja psychisch krank und verwirrt und so.” mehr, sondern wurde zu einem: “Wow, eine Ärztin, wie ungewöhnlich, dass sie so durcheinander aussieht. Vielleicht hatte sie Nachtdienst oder ist durch den windigen Innenhof gegangen, was ihre Frisur und die Schminke so durcheinander brachte. Irgendeinen Grund wird es schon haben!”
Im Allgemeinen habe ich schon oft TherapeutenInnen, BetreuerInnen und ÄrzteInnen gesehen, bei denen man auch nach längerem Gespräch nicht hätte sagen können, ob sie betreuende Person oder KlientIn sind, wenn sie nicht auf der passenden Seite des Tisches sitzen würden.
Und doch scheint allgemein zu gelten: Solange jemand “keine offizielle Diagnose” hat, keine psychiatrische Vorgeschichte etc. kann er so exzentrisch und seltsam sein, wie er / sie nur will, dann ist das halt seine / ihre “EIGENART” … und die wird toleriert!
Der Chef meiner besten Freundin wäre so ein Fall. Ein komischer Kauz sondergleichen. Angefangen vom Aussehen, der Gestik/ Mimik, der Verhaltensweise, bis hin zu seiner Weltanschauung und seinen paradoxen Vorstellungen. Würde er nur kurz durch den Gang einer psychiatrischen Abteilung spazieren, geschweige denn den Mund aufmachen, würden sich wahrscheinlich 5 Pfleger auf ihn stürzen und ihn zurück zu den “ganz schlimmen Fällen” bringen wollen.
Vor einigen Jahren war ich meinen besten Freund auf der psychiatrischen Akutstation besuchen und beobachtete, wie respektlos teilweise mit den PatientenInnen umgegangen wird. Ich sehe schon ein, dass es sicher ein harter Job ist und einem natürlicherweise mal die Geduld ausgeht, jedoch wurden selbst noch so kleine Wünsche oder Äußerungen von oben herab behandelt, als agiere man dort nach dem Motto “ist ja nur ein Kranker, der bekommt eh nicht mit, wie ich mit ihm/ihr rede.” Als wären sie weniger Wert.
Dem Chef meiner besten Freundin lassen alle alles durch gehen und dulden all seine abartigen Marotten – und das sogar mit einem (wenn wahrscheinlich auch gezwungenem-) Lächeln. Weil er ja der Chef ist.
Wäre er schicksalshafterweise jedoch Patient in der Anstalt, würde man ihn wahrscheinlich Augen verdrehend ins Zimmer nebenan geleiten und seine Dosis erhöhen, weil er sich so “komisch” aufführt.
Ich will damit keineswegs sagen, dass exzentrische Menschen weggesperrt oder betäubt gehören. Und schon gar nicht, dass all jene krank wären. Aber ich will dieses eigenwillige Phänomen der Wahrnehmung, des Verhaltens und des Respektgefühls hervorheben. Psychisch kranke Menschen werden anders wahrgenommen. Auch ich nehme sie anders wahr. Es ist normal, dass dies so ist.
Dennoch ist es so und mich interessieren die Ambitionen dahinter.
Ich habe mal eine englische Dokumentation gesehen, bei der 20 Probanden 10 Tage in einer Burg verbrachten. Einige von ihnen waren psychisch krank, andere nicht. Diese 20 Menschen mussten miteinander leben, agieren, sprechen, kochen, Spiele spielen und auch ein paar vorgegebene Vorgaben lösen. All das beobachtete ein 5 Köpfiges Team von Psychologen, Psychiatern und Verhaltensforschern und sollten heraus finden, wer erkrankt sei und besten falls sogar, das klinische Bild heraus sehen.
Eine der Aufgaben der Gruppe war, dass sie mit einer Karte eine Schnitzeljagd im Wald machen sollte.
Eine der Probanden versuchte die Karte zu lesen, tat sich aber schwer damit, woraufhin ihr ein anderer die Karte entriss und somit auch das Kommando an sich riss. Allein in dieser Situation vermuteten die Experten aufgrund der Enttäuschung und des mangelnden Durchsetzungsvermögen der ersten Probandin eine instabile Persönlichkeit, Borderline und womöglich einen depressiven Persönlichkeitstyp. Bei dem Probanden, der die Karte an sich riss, schworen sie auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung oder eine Form der Manie.
Sie lagen bei beiden Probanden falsch. Erstere war schlichtweg überfordert und müde an jenem Tag und der zweite besetzte in seinem “echten Leben” einen führenden Posten, weshalb er es gewohnt war durchzugreifen und übernahm schlichtweg gern den organisierenden Part.
Wiederum eine andere glaubten sie, als manische Patienten zu erkennen. Doch bei ihr stellte sich heraus, dass sie einfach nur aufgekratzt war durch die Glücksgefühle, einmal an so einem Experiment und Gruppenarbeit teil zu nehmen und ihre verspielte Art ausleben zu können.

Das Fazit des Experiments war: Die psychisch erkrankten Probanden wurden fast alle von den Experten erkannt. Jedoch für “gesund” konnten sie niemanden erklären. Sie sahen in jedem einzelnen irgendein Muster eines bekannten Krankheitsbildes.

Mich faszinieren all diese Beobachtungen und ich will auch weiterhin damit arbeiten und genauer herausfinden, woher genau sie rühren, wie all dies gesellschaftlich geprägt ist und warum unsere Wahrnehmung uns (inklusive mich) in so vielen Belangen so vereinnahmt und uns in diese selektive Wahrnehmung lenkt.

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