Das Pflegekind

Als Pflegekind bekommt man etwas suggeriert, das einen auf ewig prägt.
In so vielen Filmen wird die Geschichte von armen Waisen- oder Pflegekindern erzählt, die auf der schiefen Bahn gelandet sind und es dank Hollywood Filter letzten Endes dennoch schaffen ihr verstörtes, kaputtes Leben zu retten. Doch heute habe ich den Film „Good Will Hunting“ gesehen und fand es teilweise zu Tränen rührend, wie treffend der Charakter Will getroffen ist. Und es wird nichts schön geredet a la Happy End Klischee.
Will hat eine Begabung und nutzt sie nicht, er hat ein massiv gestörtes Verhalten, ist auf der schiefen Bahn, hat keinen Kopf/kein Interesse an Kariere und ist krankhaft unfähig eine gesunde Beziehung zu führen. Wie ein Zitat eines Charakters in dem Film besagt: „Er stößt andere vor den Kopf, um nicht selbst vor den Kopf gestoßen zu werden.“ Aus panischer (natürlich versteckter) Angst verletzt, abgelehnt oder kritisiert zu werden, legt er ein Verhalten an den Tag, was ihn nach außen hin schützen soll: Er gibt sich kühl, oberflächlich, desinteressiert und geht keine Bindung ein. Er hat das Gefühl „nicht verstanden zu werden“ und ist genervt von seiner Geschichte und wie sie Mitleid der anderen Menschen auslöst.
Es berührte mich sehr, weil ich mich darin sehr gut wieder fand.
Dier Film endet damit, dass Will den Fokus statt auf den „Traumjob“ auf die Rettung seiner (von ihm zerstörten) Beziehung legt. Ebenso ein Klassiker. Eine Bezugsperson zu finden, ist Thema Nummer eins als Pflegekind und es ist ein ständiges hin und her zwischen „Ich hasse alle Menschen und mich hassen eh auch alle und immer wird einem nur weh getan, ich isoliere mich und vermeide Schmerz!“ und „Ich will Kontakt zu Menschen, ich will Freunde, etwas erleben und vor allem jemanden der mich lieb hat und nicht weg geben will!“
Fast 15 Jahre lang habe ich die Thematik „Pflegekind“ unter den Tisch gekehrt. Schon als Kind wurde ich gefragt, ob das denn schlimm für mich sei und ich zuckte mit den Schultern und sagte „Nein nein, wenn du Fragen dazu hast, stehe ich dir gerne Rede und Antwort!“ Ich wollte schon als Kind die aufklärende Person am anderen Ende des Tisches sein, die die Augen für solch eine Minderheit öffnet und die Leute objektiv an diese Thematik heran führt und faktisch damit vertraut macht. Ich weinte nicht dabei, wenn ich meine Geschichte erzählte. Die Zuhörer manchmal schon.
Erst seit kurzem bearbeite ich dieses Thema in der Therapie und ich muss sagen, dass es sich sehr seltsam anfühlt. Ich fühle mich pausenlos, wenn ich das Thema anspreche genervt davon, fühle mich wie ein Angeber oder einer, der Aufmerksamkeit oder (Gott bewahre) Mitleid will.
Und doch hat mich meine Geschichte von Grund auf anders geformt, als jemanden, der eine etwas heilere Kindheit hatte (obwohl ich noch nie gehört hat, dass einer gesagt hätte, er habe eine schöne Kindheit gehabt. Immer war irgendetwas was das Leben zerstört hätte).
Es ist noch sehr frisch, dass ich mir eingestehen konnte, dass ich nun mal Dinge anders wahr nehme, als andere, eine dünnere Haut habe, Situationen als Bedrohung sehe, die für andere völlig normal sind und meine Reaktionen auf gewisse Auslöser abnorm sind.
Mittlerweile habe ich erlernt, diese Reaktionen verdeckt zu halten und mir zu verkneifen, bis ich alleine bin (nicht dass ich früher auffällige Ausraster in der Öffentlichkeit hatte! Nichts dergleichen…).
Jedoch fällt mir hier ein sehr skurriles Beispiel ein:
Ich war ungefähr 17, meine Pflegemutter ging mit mir und meiner kleinen Schwester ins Kino (meine kleine Schwester war damals noch ein Kleinkind) und wir sahen „Winnie Pooh und der Hefalump“, oder so ähnlich. Also eine Kindergeschichte!
Doch der Hefalump verlor seine Mutter und lief „Mama! Mama!“ rufend durch die Einöde.
Es ist völlig unangebrachte, aber mit meinen 17 Jahren konnte ich damals im Kino nicht mehr aufhören zu weinen. Ein ungschütztes Wesen, dass nach seiner Mama suchen muss, sie nicht findet und vor Angst fast umkommt- das das mein Horrorszenario meines Lebens.
Es hatte niemand mit bekommen, dass ich geweint hatte, aber peinlich war es mir trotzdem.
Solche Themen gibt es zu genüge, wo ich mir an die Stirn klatschen könnte und mich fragen, ob ich ein verweichlichtes Kleinkind oder wirklich ein erwachsener Mann bin!
Ich war ein Mutter-Kind (Vater hatte ich keinen) und hatte als Kind immer Angst, sie zu verlieren oder wieder weg zu müssen ins Kinderheim. Ich klammerte ohne Ende.
Beim „Tiere“ spielen mit meinen Schwester, fragte Mutter, ob sie denn auch ein Tier werden solle und mitspielen solle. Nein! Nein das durfte sie nicht! Was wenn sie sich nicht mehr zurück verwandeln würde. Dann hätte ich ja wieder keine Mama. Im Kindergarten war ich nie. Ich weinte immer nur, wenn Mutter mich wo abgeben wollte. Ich wusste ja nicht, dass es nicht für immer sein sollte.
Ich habe so unendlich viele Wundpunkte und kann nur teilweise mit ihnen umgehen, weil ich noch gar nicht alle kenne, bzw. einschätzen kann.
Manchmal frage ich mich schon, ob andere vielleicht dieselben Wundpunkte haben und es nur nicht zeigen. Immerhin verberge ich sie mittlerweile auch so gut, dass es keiner erahnen würde, wenn ich nicht davon erzählen würde.
Ich hasse es, dass ich so eine Vergangenheit habe, mich nervt das ständige aufarbeiten und daran arbeiten müssen, um überleben zu können. Immer dieses einknicken wegen Erlebnissen/ Erinnerungen, die Jahrzehnte her sind. Lächerlich!
Es macht mich manchmal so wütend. Wenn mir die Leute, die davon wissen auf die Schulter klopfen und sagen: „Du bist so ein toller, starker Mensch. Aus was für einem Schlamm du dich hochgerafft und vom Schmutz befreit hast. Und jetzt sieh dich an, wow! Meine Bewunderung!“
Das brauche ich nicht. Das will ich nicht! Dieses Mitleid, dieser Respekt, als wäre ich ein Ritter.
Ich habe so viele Schwachstellen (nicht nur eine, wie Achilles) und habe so oft zu kämpfen, verbaue mir oft so viel selbst. Von Tag zu Tag oder eher Jahr zu Jahr werde ich besser mit der Thematik umgehen können, aber sie zu akzeptieren (was Schritt 1 ist) fällt mir phasenweise so schwer!
Als ich maturierte, waren wir am Amt für Jugend und Familie und die Sozialbetreuerin, die auch meinen leiblichen Vater damals betreute, fiel fast vom Sessel, als ich ihr von der bevorstehenden Grundausbildung erzählte. Sie sagte: „Ich bin schon lange im Dienst, aber ein Pflegekind, dass Matura macht, das habe ich noch nie erlebt. Die meisten rutschen leider ab…“

Ein Pflegekind ist wie eine Kletterpflanze, keine Wurzeln, nur Noppen, die sich an alles klammern wollen, was eben gerade an Zuwendung da ist, aber jene sind leider sehr verletzt, wenn sie mal los gelöst wurden und wieder neues Vertrauen/Untergrund fassen sollen.

Wie schon im ersten Kapitel erwähnt: Es stimmt, man hat so viel im Kopf und so viel Gefühlschaos, so viel mit seinen Problemen (die man ja gar nicht will) zu jonglieren, um allein das Zwischenmenschliche in der Schule und allein den Prüfungsstress zu ertragen, dass einem Nachmittags dann immerzu die Kraft zum Lernen bleibt. Und so bleiben die meisten dann auf der Strecke…
Tiefschneidendes Thema an sich, über das ich hier wohl noch paar Texte verfassen werde…

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