Ich kam fast 3 Monate zu früh auf die Welt. Ich kenne Kinder, die ein paar Wochen länger im Mutterleib verweilten und die sind aufgrund dieser frühen Geburt geistig oder körperlich behindert. Also insofern hatte ich unschätzbares Glück!!!
Mein Vater und meine Mutter waren schon vor meiner Geburt nicht gerade das harmonische Paar. Und bereits während der Schwangerschaft scheint es zu heftigen Auseinandersetzungen und einem on off in der Beziehung gekommen zu sein. Meine Mutter nahm viele Medikamente während der Schwangerschaft und man vermutet, dass sie auch Alkohol trank.
Sie war psychisch labil und unzurechnungsfähig, lies mich oft alleine in der Wohnung und war mehrere Stunden unterwegs. Bett hatte ich keines, sondern lag auf einer Matratze am Boden und war mit vielen Tieren alleine da. Sie hatte 3 Hunde, mehrere Meerschweinchen, Chinchillas und Hamster. Auch die Nager liefen angeblich teilweise frei herum.
Ein Baby alleine zu lassen fällt bereits unter Misshandlung… Doch dann waren da ja noch andere Dinge.
Sie soll mich einige Male heftig geschüttelt haben und mit Wasser ins Gesicht gespritzt haben, damit ich aufhöre zu weinen, weil sie so derart überfordert war. Einmal wollte sie sich umbringen, stand am Fensterbrett und schrie. Verwirrt wie sie war, rief sie ihren Tierarzt an, um ihren Suizid an zu kündigen.
Mein Vater stahl ihr angeblich all ihr Geld (von dem sie ohnehin schon zu wenig hatte) um seiner Sucht nach zu gehen. Die beiden schrien und schlugen sich immerzu vor meinen Augen. Für mich gab es meist nicht einmal etwas zu essen, geschweige denn Kleidung oder Spielsachen. Meine Mutter hatte nicht einmal einen funktionierenden Herd.
Ich weiß bis heute nicht, welche der 3 Versionen wirklich stimmt. Entweder meine Mutter zog irgendwann los und ging von Tür zu Tür, um eine Pflegefamilie für mich zu finden oder mein Vater hatte Erbarmen und brachte mich ins Kinderheim Lainz oder das Jugendamt schaltete sich aus irgendeinem Grund ein. So und so, ich kam eine Zeit lang ins Kinderheim. Dann gab es ein hin und her zwischen meiner leiblichen Mutter und einer Tagesmutter. Bei der Tagesmutter und ihren zwei leiblichen Töchtern, die damals Teenager waren blieb ich schließlich immer unter der Woche und am Wochenende kam ich zurück zur leiblichen Mutter. Meine Pflegemutter erzählte mir, dass es jedes Mal von neuem ein Kampf war, wenn ich vom Wochenende wieder zu ihnen kam, mir das Essen bei zu bringen. Meine leibliche Mutter fütterte mich nicht und wenn sie mir etwas gab, dann Kaffee. Schon mit 2 Jahren soff ich meiner Pflegemutter den Kaffee weg, wenn sie nicht hin sah.
Dann gab es noch ein bisschen hin und her und Verwirrung und Bürokratie und Gutachten und dann blieb ich bei der Pflegefamilie und meine leibliche Mutter verschwendete wohl keine Sekunde mehr ihrer wertvollen hoch intelligenten Gedanken an mich.
Mit 11 forderte mein leiblicher Vater, der bis dahin im Gefängnis gesessen hatte Besuchskontakt. Und den bekam er auch. Ich hatte so furchtbare Angst. Ich zitterte am ganzen Körper und mein Herz pulsierte mir bis in die Fußsohlen und bis hoch zur Stirn, als die Sozialarbeiterin mich und meine Pflegemutter in ein Zimmer führte, wo mein Vater schon warten würde. Musste ich jetzt wieder weg? Wozu wollte er mich sehen? Wo war er davor? Wie kann das mein Vater sein, der ist mir fremd?
Da saß ein Mann… ein Mann, den man an und für sich von seinen Kindern fern hält. Glasige, tote Eisaugen, aufgedunsen, blass und pechschwarzes Haar. Seine Hände zitterten, seine Stimme auch, er war dick und ungepflegt. Wer war dieser Mann?
Er erzählte mir Sachen, die mich schauderten, von seinem leiblichen Sohn, der vor Jahren von seinen Pflegeeltern zu Tode geprügelt wurde, von seinen Narben, die er sich zugefügt hatte, als er sich das Leben nehmen wollte und von seinen Narben, als er angeschossen wurde, weil er vor der Polizei floh vor seiner Festnahme, von meiner furchtbaren leiblichen Mutter, die mir böses wollte und noch so einiges. Angeblich brachte er mir Schokolade mit zum allerersten Besuchskontakt, von der ich behauptete, die wäre meine liebste Schokolade. Doch dies war eine Lüge. Ich hatte diese Tafel nie angerührt, weil ich diese Sorte nicht mochte.
Seit dem Tag kann ich nicht mehr in den Spiegel sehen, ohne sein Gesicht zu sehen…
Er schrieb mir oft Briefe, die zittrige Schrift konnte man kaum entziffern, weil er immerzu entweder versoffen und auf Tabletten oder auf Entzug war. Der Besuchskontakt musste regelmäßig abgehalten werden. Alle 1-2 Monate, gaube ich. Jedes Mal, wenn ich wusste, dass wir nach der Schule den Termin mit Vater hatten, hatte ich schon am Vortag Herzrasen.
Mit 14 suchte ich zum ersten Mal selbst den Kontakt und wollte ihn fragen, ob er sich zu Ostern treffen wolle, weil er mir leid tat. Doch er konnte nicht, er hatte keine Kleidung, sagte er.
Mit 19 war ich sehr sauer auf ihn, weil er mich mit seinen Briefen und den Ausrichtungen, die mir die Sozialarbeiterin weiter geben sollte nervte. Dies kostete mich den letzten Nerv, da ich ohnehin im Maturajahr und schon damit viel zu überfordert war. Ich wusste, er müsse sich nur gedulden, mich in Ruhe die verdammte Schule fertig machen lassen und wenn ich es dann endlich geschafft habe, könne ich mich mit ihm treffen (da war ich auch nicht mehr so ängstlich) und wir hätten Zeit für uns.
Doch am Tag vor meiner Deutschschularbeit kam der Brief vom Jugenamt.
Er war gestorben. Seiner Sucht erlegen. Wohl im Schlaf erstickt. Ich fuhr zusammen, raffte mich schnell wieder auf und fuhr in die Schule. Ich schrieb meine Schularbeit und verlor kein Wort.
Alles in mir war tot. Auf der Beerdigung waren nur ich und meine Pflegemutter, niemand sonst. Obwohl ich hoffte und zugleich fürchtete, einen meiner zwei leiblichen Brüder oder meine leibliche Mutter dort zu treffen. Doch er war es ihnen nicht wert.
Erst 8 Monate später, als die Matura vorüber war, hatte die Trauer Platz. Und doch begann sie erst Jahre später zu pochen und ich fuhr 5 Jahre nach seiner Beerdigung zu seinem Grab. Ich war wütend und traurig zugleich. Rasch legte ich meine Scham ab und begann mit seinem Grab zu sprechen. Ich machte ihm Vorwürfe, weinte und Zorn durchzog meine Stirn. Und dann:
Fühlte ich etwas wie Befreiung, als ich über die aufgeschüttete Erde strich und sagte:
„Ich verzeihe dir! Ich lass dich gehen und es ist ok. Ich danke dir für alles und ich will, dass du weißt, dass ich alles daran setzen werde, um dich stolz zu machen! Ich werde einen anderen Weg gehen als du und du wirst sehen, dass man auch mit gebrochenem Herzen Stärke erlernen kann!“
Mein Gott, was habe ich geweint. Auch jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, kann ich nicht aufhören zu weinen. Kaum erwähne ich das Wort Vater, muss ich weinen. Es scheint ein so tief sitzender Schmerz in mir zu sein, der immerzu brodelt und erst dann wieder heraus quillt, wenn ich an ihn denke. Und das versuche ich manchmal zu vermeiden, um nicht zusammen zu brechen.
Er war ein guter Mensch und ich fühle mich so schlecht. Er hatte den Kontakt zu mir gesucht und ich hatte nichts besseres gewusst, als mich vor ihm zu fürchten. Ich hatte nie die Chance, ihm zu danken und ihm zu sagen: Ich liebe dich. Weil ich noch zu jung war und vor lauter Angst nichts anderes als Abneigung fühlen konnte. Aber er war immer für mich da. Andere Väter hauen ab und haben kein Interesse an ihrem Kind, aber er schon. Er nahm die Beine in die Hand, kämpfte sich immer wieder aufs Neue durch einen Entzug, nur um sein Kind für paar Stunden sehen zu können, selbst wenn er mir manchmal nur beim Spielen zusehen durfte. Und er brachte mir Geschenke, jedes Mal, die er von Spenden bekommen hatte und manchmal schenkte er mir einfach so 10€ und sagte: „Kauf dir ein Eis oder was dir sonst so Freude bereitet!“ und er selbst hatte nicht einmal Kleidung.
Ich wünschte uns wäre mehr Zeit geblieben und ich hätte mich um ihn kümmern können.
Eine Dame sagte mir einmal: „Vielleicht ist dir damit sehr viel erspart geblieben!“ und sie hat wahrscheinlich recht. Damit tröste ich mich dann immer, wenn die Tränen nicht mehr aufhören zu fließen. Er hatte endlich seine Erlösung, denn ich allein hätte ihn niemals retten können.
Ich beende diesen Text und hoffe, dass ich bald aufhören kann zu weinen. Um Himmels Willen, wann wird dieser Schmerz denn endlich einmal aufhören…?
Nach dem Tod meines Vaters und Absolvierung der Matura suchte ich den Kontakt zu meiner leiblichen Mutter. Ich machte ihre Adresse ausfindig und schrieb ihr einen neutralen Brief, in dem ich einfach mal Hallo sagte und ihr von der Matura und meinem bevorstehenden Urlaub erzählte.
Der Briefkontakt war äußerst seltsam. Sie wechselte ihre Laune von Absatz zu Absatz, machte mir Druck, dass meine Briefe schneller kommen sollen, dass ich sie aber auch in Ruhe lassen solle, dass wir uns treffen können, aber nur Nachts im Wald und dass sie froh sei, dass mein Vater endlich tot sei.
Nun, ich kenne die Geschichte der beiden nicht. Rückblickend betrachtet war es wohl wirklich eine Befreiung für sie, nicht mehr von ihm gestalkt zu werden (was er angeblich tat) und mein Auftauchen war dann wohl ein großer Schock für sie. Jedoch warf sie mir letzten Endes vor, dass ich gar nicht der wäre, als den ich mich ausgebe und dass sie mir wünsche, ich würde genauso drauf gehen, wie mein Vater. Danach schrieb ich ihr nichts mehr und habe damit auch abgehakt.
Einige Monate später, bei der Stipendienstelle sollte ich Angaben zu den leiblichen Eltern machen, was mir unmöglich war, weshalb der Beamte im Computer nach ihrem Wohnsitz suchte und mir vor den Latz knallte, dass sie im Gefängnis säße. Der Tag war für mich gelaufen und die Stipendienstelle war weder damals, noch zwei Jahre später und auch nicht 4 Jahre später fähig, meinen Antrag zu stellen, da die „Daten der Eltern fehlen“, die ich logischerweise nur bedingt machen konnte. Nun, als Pflegekind ist Stipendium und auch einige andere Dinge nicht möglich, da man auch hier ein Sonderfall ist, den Beamte bekannter Weise anstrengend zu bearbeiten und somit unnötig finden.
Ich hatte alle Unterlagen gebracht, selbst einige Angaben zu den leiblichen Eltern, hatte Mails und Anrufe raus geschickt und Druck gemacht, dass mein Fall bearbeitet werde und habe bis heute kein Wort mehr von dieser Anlaufstelle gehört.