Es hat sich so viel getan die letzten Jahre. Wenn ich daran denke, dass ich erst Ende 2011, als junger Mensch den Tod um Erlösung anflehte, weil mich das Leben in die Knie zwang und danach über 1,5 Jahre durch den Einfluss von Psychopharmaka ein absolut wirres Leben führte, erst ein Monat auf der Akutstation festgehalten wurde und dann eine Langzeittherapie in der Psychiatrie absolvierte. Danach verbrachte ich die Zeit Zuhause, versuchte “zu genesen” und lebte nur so in den Tag hinein, weil es für Alltagsplanungen an Kraft fehlte.
Als ich Ende April 2012 die Tagesstruktur beendete, genoss ich die Tage mit meiner Freundin, wir machten Ausflüge, sahen gute Filme, kochten gemeinsam,… alles Dinge, dich ich noch nie zuvor in einer Beziehung so gelebt hatte.
In dieser Zeit plante ich auch mein “anonymes Projekt”, welches ich bisher noch nie näher erläutert habe in diesem Blog.
Doch nun will ich endlich mal Tacheles reden:
Ich hatte viele Jahre sehr an meinem Äußeren und dem Bild der Gesellschaft von mir gelitten und wollte, um nicht erneut in solch eine tiefe Krise zu fallen beschlossen, dass ich etwas daran ändern musste.
Durch eine Mutation in der Erbanlage, wurde im Mutterleib zu wenig Testosteron gebildet, was einige meiner Atribute falsch bildete.
Ich wurde als Mädchen “missgedeutet” bei der Geburt, als solches benannt und aufgezogen. Doch einiges deutete schon auf diesen großen Irrtum hin, als ich in die Pubertät kam. Ich sollte wie ein Mädchen leben, fühlte mich aber weder so, noch entwickelte sich mein Körper zu 100 Prozent so. Ich fühlte mich zu den Mädchen hin gezogen, wollte aber lieber mit den Jungs Fußball spielen, ich kam zwar nicht in den Stimmbruch, hatte aber mehr in der Hose, als es sich für ein biologisches Mädchen gehören würde. Mir wuchsen kleine Brüste, aber sie waren sehr flach und hatten nur winzige Brustwarzen, wie bei einem Jungen und meine gesamte Behaarung war ausgeprägter, als es bei Mädchen durchschnittlich der Fall ist. Ich hatte einen kräftigen Brustkorb, ein sehr markantes Gesicht, tiefe Augen und Waden wie ein Fußballspieler. Doch mit 15 hatte ich meine erste (7 Jahre lange Beziehung) mit einem Jungen/Mann, weil sich dies für “ein Mädchen” ja so gehörte und versuchte mich in diesen 7 Jahren schmerzhaft anzupassen, einzufügen und so zu benehmen, wie man es wohl von mir erwarten würde. Alleine Zuhause riss ich mir den BH vom Leib und schlüpfte in die bequemen Jungsklamotten, Tag für Tag. Die Depressionen fraßen mich auf und das Doppelleben, das ich führte, schürte (neben meiner Pflegekind-/Kinderheim-Traumata) noch mehr das psychische Leid.
Erst nachdem wir gemeinsam ausgezogen waren, ich war gerade frisch 22 geworden, spitzte sich die Lage so derart zu, dass ich es in meiner Haut nicht mehr aushielt und ich die Beziehung nach langem Streit und immerzu fast ausbrechender Gewalt beendete. Zum ersten Mal hatte ich dann etwas mit einem Mädchen… für einen Monat. Dann stritten wir und ich war vollkommen allein. Zum ersten Mal in meinem Leben, seit meiner Babyzeit war ich absolut allein, hatte niemanden. Das Studium hatte ich aufgeben müssen, den Nebenjob hatte ich nervlich nicht mehr ertragen und Freund und Freundin waren weg. Da saß ich dann Herbst 2011 alleine in meiner leeren Wohnung am Boden und schrieb Hunderte Seiten voll, bevor ich beschloss, die Leere in mir schlafen zu legen…
Dann war eben die Psychiatriezeit, bis hin zu der Stelle, wo ich vorher die Rückblende ansetzte:
2012, nach der Tagesklinik, erst paar Monate mit der neuen Freundin zusammen, Leben genießen, versuchen zu genesen… und eben mein “anonymes Projekt” starten. Dies da wäre eine Hormonbehandlung und eine Operation (Mastektomie).
Ich kämpfte mich durch psychologische Gutachten, unangenehme Arzttermine, Amtswege und bürokratische Berge, bis ich endlich September 2012 (also nach einem ganzen Jahr fokusiertem darauf hin arbeiten) die Bewilligung für die Hormongabe von Testosteron erhielt, mein Name wurde zu dem geändert, der er schon immer hätte sein sollen und ich kam in eine zweite Pubertät: Stimmbruch, Haarwuchs, neue sexuelle Entdeckungen, aber auch Akne, Stimmungsschwankungen, “keiner versteht mich” und “ich hasse euch alle” Mentalität. Ein völlig neues Kapitel in meinem Leben begann. Ich verlor viele “Freunde”, knüpfte zu der Zeit neue Kontakte, die teilweise bis heute halten, teilweise rasch wieder abrissen. Ich begann fort zu gehen, im richtigen Geschlecht, begann aufzuleben, gesellschaftlich richtig eingeordnet zu werden.
2013 dann die Operation, von der ich mich knapp ein Jahr nicht erholte. Es kamen viele Folgebeschwerden auf mich zu und ein regelrechter Ärztemarathon. Doch ich hatte auch schöne Momente in diesem Jahr. Ich fuhr zu einem Freund raus nach Linz, machte eine Railway-Tour nach Graz mit ihm, wo wir die Nacht durch machten und von Pub zu Pub pilgerten, ich baute eine Freundschaft und stabile Beziehung mit meiner jetztigen Partnerin auf und einiges mehr, was mein Leben bereicherte.
2014 hatte ich dann einen kleinen Eingriff an den Ohrläppchen, die ich mir unter Psychopharmakaeinfluss 2012 auf gedehnt hatte und legte all meine Piercings ab, schnitt mir die Emo-Frisur zu einem sauberen Haarschnitt, ging zur Logopädin, weil ich meine Stimme kräftigen wollte und begann diverse Kurse zu besuchen und auch meinen Wiedereinsieg in de Arbeitswelt zu planen.
Jetzt war ich mit mir und meinem Erscheinungsbild ja im reinen und wollte nun endlich einen Beruf ergreifen.
Wie in den vorigen Kapiteln schon mehr als nur ausführlich beschrieben, gestaltete sich das sehr schwierig, bis unmöglich und so waren meine einzig erwähnenswerten Erfolge nach 2014:
das gründen einer Gruppe von Leuten, die zwanglos fortgehen wollen => Sozialkontakte (vor allem mit meinem “neuen” Ich und Menschen, die mich nicht für meine Vergangenheit abschreiben),
ein Jahr arbeiten in der Eventtechnik => Erprobung Job,
Führerschein machen => Unabhängigkeit, Erfolgserlebnis, Mobilität,
das fertig einrichten/ renovieren der Wohnung => dem Wohnen mehr wert geben und schöner leben,
vor kurzem der Kauf eines kleinen Häuschens in den Voralpen => Rückzugsort
und natürlich das erhalten, hegen und pflegen der Beziehung zu meiner Freundin!
Von Null auf, als quasi “neu geborener Mensch” hatte ich mir fast alles neu aufbauen müssen: Sozialkontakte, Jobaussichten, ja sogar Hobbies, etc. und hatte andere Erwartungen und Wünsche an dieses Leben, was ich erst umsetzen musste.
Seit dem hat sich nach außen hin nicht viel getan, keine aufzählbaren Erfolge oder Ereignisse, aber ich für mich habe auch die letzten vier Jahre einen großen Schritt getan, in Bezug auf die “große Frage der Berufung”:
Nach langem forschen, welchem Beruf ich nachgehen solle, ob und welche Ausbildung ich machen solle und warum es bisher immerzu von meiner Seite aus scheiterte, einem Beruf längerfristig nach zu gehen, hatte ich endlich erkannt, was die Wurzel dieses Problems ist und habe endlich einen Weg gefunden, damit leben zu lernen. Und zwar mit der Tatsache, dass es derzeit (noch) keinen Beruf am so genannten “ersten Arbeitsmarkt” für mich gibt! Die Suche danach war die letzten Jahre also ein unmögliches Unterfangen und somit unnötig.
Erst Ende 2017 entdeckte ich eine Arbeitsstruktur für mich und kann mich nun langsam und schonend darauf vorbereiten, eventuell in den nächsten Jahren am “Normalo” Arbeitsmarkt zu starten. Zwar spät aber doch.
Denn so, wie ich es derzeit angehe, habe ich zum ersten Mal wirklich eine Chance, je einem normalen Job nach zu gehen!!
Und jetzt endlich ein Job, in einer Institution, in der mich meine Kollegen verstehen, in der ich behütet bin und Arbeitsalltag lernen kann.
In dem Körper, der zu mir gehört, mit den Leuten, mit denen ich mich verstehe, mit der Partnerin, mit der ich alt werden will und mit kleinen Zielen, die ich nach und nach in meinem Leben erreichen will.
Und dafür hab ich noch sehr viel Zeit! 🙂
Immer Vorwärts
