Mutter hat schon immer wie ein Kommentator alles in der Öffentlichkeit kommentiert, was nur irgendwie an ihre Sinnesreize kam. Auch völlig persönliche Eindrücke. Und so tat und tut es auch meine ältere Schwester.
Mit ihnen unterwegs zu sein war wie eine regelmäßige Schulung von Kleinauf, dass alles, was um einen herum passiert mehr oder weniger laut bewertet werden muss.
Oft tuschelten sie nur oder deuteten mit Blicken, dass man sich die neu zugestiegene Person ansehen soll.
Dies waren dann meist korpulente Personen (und dennoch schlanker als Mutter und meine Schwester), Menschen mit einem schlichten oder auch mit auffälligem Kleidungsstil, diverse Frisuren, Accessoires, Gangart, Art zu reden oder zu gestikulieren,… Nichts wurde ausgelassen.
Wenn mal eine Person zu laut im Bus oder sonst wo telefonierte, fragte Mutter ihre Begleitperson so laut: “Warum schreit die so?”, mit dem Ziel, dass die Person sie hören kann. Oder Sprüche wie: “Warum führt die sich so auf?” “Warum macht man sowas?” “Bitte wer zieht sich so an?” “Das föht erbärmlich, was die da isst!” “Von derra ihrem Kleid bekomme ich Augenkrebs!” oder “Na, da hat wohl jemand im Parfum gebadet!”
Meistens flüsterte sie uns derartige Kommentare, manchmal sprach sie sie provokativ laut aus und schien die Konfrontation zu suchen bzw. sich mitteilen zu wollen, dass das Auftreten/Verhalten der anderen Person ihr in irgendeiner Weise schadet oder sich aufdrängt.
Mit manchen Sachen lag sie vielleicht im Recht, zum Beispiel, wenn einer so laut telefonierte, dass sich die Menschen selbst im vorderen Teil des Busses schon umdrehten. Aber ob eine korpulente Person das Recht dazu hat einen Minirock zu tragen oder nicht, lag keinesfalls in ihrem Ermessen.
Ich weiß nicht, ob es an meiner Hypersensitivität liegt oder ob auch dies durch Mutters Verhalten so in mir abgespeichert wurde, aber ich reagiere sehr stark auf Dinge und Menschen, die ich in meinen Augen als unattraktiv erachte. Es ist ein furchtbares Gefühl, so zu denken/empfinden, zumal ich tief in mir drin der Meinung bin, dass jeder Mensch, der sympathisch ist, etwas schönes an sich hat.
Doch kaum entdecke ich etwas unsympathisches am Verhalten dieses Menschen, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Dann sehe ich plötzlich nur mehr die schiefe Nase, die ungleichen Augen und die gelblichen Zähne. Ich will so nicht sein. Ich bin nicht oberflächlich und ich hasse es, wenn man sich auf Äußerlichkeiten fixiert. Aus Scham davor spreche ich diese Empfinden auch sehr selten aus. Meine Mutter und meine Schwester tuscheln dann beinhart rüber: “Boah, schau dir den schirchen Hund da vorne an…”
Ich weiß nicht warum sie es tun. Es ist schade, dass sie so sind, denn ich denke, sie sind an sich keine schlechten Menschen und sie wollen nur irgendetwas damit kompensieren.
Wenn ich ein Gesicht lange ansehe, beginnt es mir meist automatisch zu gefallen (es sei denn, ich kenne eine negative Geschichte zu dem Menschen von dem Gesicht – z.B. bekannter Massenmörder – oder finde diesen Menschen aus persönlichen Gründen unsympathisch). Dann beginnt eine Art selektive Wahrnehmung und es scheint durch jede Pore aus dem Gesicht dieses Menschen jene negative Art durch zu sickern und das gesamte Gesicht zu verunstalten. Sehr metaphorisch gesprochen, aber so in etwa kann man sich vielleicht ein Bild davon machen, was ich meine.
Grundsätzlich finde ich jedes Gesicht schön. So außergewöhnlich kann es gar nicht sein… und gerade die sind die schönsten Gesichter- wenn die Ausstrahlung passt!
Ich fokussiere mich so ungern auf Äußerlichkeiten. Vielleicht weil meine Mutter dies immer tat. Alle Menschen waren schirch, aber sobald ein Mensch im Rampenlicht stand, empfand sie ihn als schönen Menschen und vergötterte ihn ohne Ende.
Meine Mutter kam, in dem Punkt, nie aus ihren Teenie Jahren raus. Bis heute hat sie Poster von Stars in ihrer Wohnung hängen, schwärmt von Sängern und Schauspielern, wie ein hysterischer Teenie, läuft ihnen zu den Konzerten nach und vergöttert jeden Furz, den sie lassen.
Alles an ihnen wird in ein Goldfaß getaucht. Selbst negative Dinge, die dann in dem Medien auftauchen, werden schön geredet mit: “Naja, der ist so schön und so erfolgreich, der konnte ja nur zu den Drogen greifen und dann Auto fahren. Armer Mensch…”
Als Jugendlicher litt ich sehr unter ihrer Art. Ihr waren die Stars wichtiger, als ihre eigenen Kinder. Und was unsere Träume anging, erklärte sie uns immer gleich sofort: “DAS schlag dir mal aus dem Kopf! Das ist unrealistisch und vor allem für dich nicht machbar!” (Beispiel Gesangskarriere oder Schauspielschule oder andere Dinge. Ja, es waren dumme Ideen und Ausbildungen ohne Hand und Fuß, aber träumen wird man doch wohl dürfen als 15 jähriger.
Aber sie weinte viele heiße Tränen, als diverse Stars bei Interviews erzählten, dass sie froh sind, dass ihre Eltern sie bei ihrem irren Werdegang unterstützt haben und sie deshalb das werden konnten, was sie jetzt sind: Stars!
Mutter ging, als sie noch jünger war und ihre erste Tochter im Teenie Alter war mit ihr gemeinsam in die Disko. Ich finde das etwas seltsam, denn sie hätte jene Tochter eher dazu bewegen sollen, mehr für die Schule zu lernen (zumal sie ohnehin mehr Exzesse als positive Noten hatte!), anstatt sie auch noch in die Disko zu schleppen. Wenn Töchterchen die Jungs zu fad wurden, klatschte sie sie an Mutti ab und die unterhielt sich dann den Rest des Abends mit ihnen… Aber dies war nun mal ihre Art der Beziehung und es schien auch für beide so gepasst zu haben, weshalb ich dies auch nicht weiter bewerten will.
Zurück zum Hauptthema:
Allmählich merke ich, wie sich seit der Pubertät auch immer mehr diese Denkweisen übernehme, ohne es zu wollen. Und es war mir bis vor kurzem noch gar nicht so bewusst. Erst vor paar Wochen kristallisierte es sich so heraus, dass meine Gedanken, die mich manchmal wirklich wahnsinnig machen und meinen Frust und Ärger auf die Welt hochschaukeln, eigentlich 1:1 die Aussagen meiner Mutter sind. Und die spuken jetzt in meinem Kopf herum und prägen meine Gedanken und Reaktionen auf äußere Reize.
Jedoch jetzt wo mir dies zumindest mal bewusst ist und ich die Ursache kenne, lässt es sich viel leichter damit arbeiten!