30 Jahre lang wusste ich, dass ich einen leiblichen Bruder habe (vom selben Vater und der selben Mutter).
30 Jahre lang wusste ich Fetzen von dem, was uns verbindet, was mit ihm geschah und wie er heißt. Sogar ein paar Fotos von ihm als Vorpubertierender hatte ich von Vater gezeigt bekommen (damals war ich noch zu jung und obendrein abgeneigt, weshalb ich nichts damit anfing).
Erst mit 20, als ich damals auch den Kontakt zu meiner leiblichen Mutter neugierig suchte, unternahm ich auch den ersten Versuch Kontakt zu meinem leiblichen Bruder zu knüpfen. Ich erkundigte mich über die Sozialarbeiterin, die Kontakt zu seiner Adoptivmutter aufnahm und anfragte, ob er auch Kontakt haben wollte. Grundsätzlich wollte er, aber es ging ihm psychisch so dermaßen schlecht (wohl in etwa in dem Ausmaß wie mir wenige Jahre zuvor), sodass er sich komplett abgrenzen wollte. Soweit so gut. 10 Jahre vergingen, ohne dass ich weiter über die Sache nach dachte…
Und dann veränderten sich einige Dinge in meinem Leben, manche kurz vor meinem nächsten runden Geburtstag.
Meine Freundin und ich wollten umziehen und uns gemeinsam an einem Wohnsitz melden. Durch meinen derzeitigen Status wäre dies aber nicht ohne finazieller Einbüssen verbunden gewesen. Also hatte ich einiges bürokratisches ab zu klären. Es war nervenaufreibend und fordernd. Ich musste auf viele Ämter, viele unangenehme Fragen stellen und viele grantige BeamtenInnen ertragen.
Kurz: Es ging um meine Pension, meinen Status und der damit dringlichen Klärung, ob meine leibliche Mutter bereits verstorben sei.
Nicht nur aus den Klärungsgründen wollte ich das wissen. Ich war auch so neugierig, ob sie immer noch in der Justizanstalt inhaftiert war oder nicht. Überall konnte man mir keine Auskunft geben. Sie schien nirgends auf, weshalb ich bis heute kein Stück klüger bin.
Einer dieser Amtswege war der Weg zum Standesamt für eine Meldeauskunft.
Als wäre es eine Eingebung, notierte ich mir nicht nur Name und Geburtsdatum der Mutter, sondern spontan auch die des Bruders, um so die Meldeauskunft zu erhalten. Heim ging ich nur mit der des Bruders, da die Mutter dubioserweise vollkommen “unsichtbar” für die Ämter war- auch äußerst seltsam. Wie kann ein Mensch einfach so untertauchen?
Ich verwarte die Meldeauskunft des Bruders Zuhause und verfasste alsbald einen Brief an ihm.
Einen Brief, in dem ich ihm gelassen und vernünftig alles offenbarte: Dass wir nun beide erwachsen wären und eventuell nun beide bereit wären, uns zu treffen oder zumindest zu schreiben. Ich erzählte ihm ein bisschen von mir und meinem Charakter und nahm ihm die Angst vor meiner Kontaktaufnahme, indem ich ihm klar machte, dass ich mich sofort zurück ziehen würde, wenn er kein Interesse an Kontakt an mir habe. Ich sandte ihm sämtliche Möglichkeiten, um Kontakt mit mir aufnehmen zu können und verblieb mit freundlichen Grüßen.
Dies war Hallloween 2018.
Meist gar nicht so üblich für meine Art war ich besonders gelassen. Ich war wirklich neutral eingestellt. Ich dachte bei mir: Wenn er sich meldet, ist es schön, wenn er sich nicht meldet, ist es auch okay. Wenn er mich ablehnt und womöglich per Brief wüst beschimpft (so wie es vor einem Jahrzehnt bei der Mutter gewesen war), dann müsse ich dies eben ertagen.
Die Zeit verging und nichts kam retour, doch ich war immer noch gelassen…
Am 6. Dezember 2018 hatten wir in der Arbeit ein Event, bei dem viele Kunden erschienen und ich beschloss länger in der Arbeit zu bleiben, da ich darin aufblühte und sie ohnehin Verstärkung “an der Front” benötigten. Am Nachmittag ging ich dann, wie immer in der Kaffeepause zu meinem Spint und holte mein Smartphone. Ich hatte ein SMS einer mir unbekannten Nummer.
Derjenige schrieb, dass er sich entschuldige für die späte Antwort, dass er sich sehr über meinen Brief gefreut hätte und dass man ja telefonieren könnte, weil dies leichter wäre als schreiben.
Erst kurz zuvor hatte ich einem Bekannten, der denselben Namen hat eine tröstende Nachricht gesendet, weil er sich nicht gut fühlte.
Ich war für einen klitzekleinen Moment in dem Glauben, die Nachricht wäre von ihm. Aber der erwähnte Brief machte es ganz klar für mich:
DIES WAR DIE ERSTE NACHRICHT VON MEINEM LEIBLICHEN BRUDER!
Ein Schwall von unermesslicher Glückseligkeit und Zufriedenheit mit der ganzen Welt kam in mir auf. Ich hatte eine Nachricht von meinem großen Bruder bekommen. Was für andere normal und alltäglich ist, war für mich nach 30 Jahren das Glück auf Erden.
Da ich wusste, dass ich an dem Abend länger arbeiten würde und hernach noch unterwegs wäre, beschlossen wir tags darauf, nachmittags zu telefonieren! Den ganzen Tag in der Arbeit saß ich auf Nadeln, musste mich krampfhaft auf die Arbeit konzentrieren, um mich abzulenken, bis ich Mittags endlich Heim fuhr und alles für das Telefonat vorbereitete: Kopfhörer, Wasser und Notizblock.
Die allerersten Wortwechsel waren mehr als nur misslungen. Er wusste nicht, wer dran war, meinte dann, es wäre gerade schlecht, weil er unterwegs sei und ob er in 20 Minuten zurück rufen dürfe. Unplanmäßig daneben. Dann schrieb er mir auch noch, dass es doch länger dauern würde, weil er noch etwas essen gehen wolle. Jedoch hatte ich früh Abends eine Verabredung zum Punsch trinken und hatte nicht eingeplant, dass mehr als eine Stunde vergehen würde. Doch dann endlich kam es zum Telefonat!
Und ganz ehrlich, mir fiel ein Stein vom Herzen, als wir da so sprachen. Der Mensch, der anfangs so verwirrt und desinteressiert wirkte, entpuppte sich als ehrlicher, sympathischer Mensch, mit dem ich hätte stundenlang reden können. Wir sprachen über alles mögliche:
Über Technik, über ergriffende Berufe, Musikgeschmack, unsere Kindheit und diverse Erlebnisse, über unsere Charakterzüge, über die Familie (leibliche – und Pflegefamilie) und über unsere Vorlieben und Ängste. Alles quer durch die Bank.
Und es war erschreckend, wie sehr wir uns in fast allen Lebenslagen deckten!
Unser Charakter glich sich wahnsinnig (was ja selbst bei zusammen aufgewachsenen Geschwistern oft nicht der Fall ist) und wir zwei, die wir in völlig verschiedenen Häusern groß geworden waren hatten eine Bindung und eine Ähnlichkeit, dass es hätte schöner nicht sein können.
Das Telefonat war offen, ehrlich, erfrischend und vor allem entspannt. Wir telefonierten nur knapp eine Stunde und es war mir, als hätten wir in der kurzen Zeit unsere Welten miteinander ausgetauscht!
Wir wollten einander treffen und das gleich am nächsten Tag.
Nach meiner Arbeit ging ich schnurstracks, wenn auch relativ entspannt Richtung Weihnachtsmarkt Spittelberg, wo wir uns vorm “Centimeter” treffen wollten. Ich sah ihn schon aus der Ferne und wusste irgendwie gleich, dass er es ist. Und er sah mich und wusste auch gleich bescheid. Wir gaben uns die Hand- Wahnsinn, der erste Händedruck mit jemanden, der deine Gene teilt, den du aber noch nie zuvor gesehen hast, ist unbeschreiblich und so ergreifend!!!!
Aus dem Händedruck wurde eine feste, innige Umarmung und ein Blick in das Gesicht des anderen, wie in einen Spiegel!
“Ich dachte, wir sehen uns ähnlicher!” sagte er zuerst. Und er hatte irgendwie recht. Aber irgendwie auch nicht. Wir stellten heraus, dass wir im Gesamtbild anders wirken, uns jedoch sehr wohl verdammt ähnlich sehen. Allein unsere Augen scheinen wie kopiert zu sein…
Wir schlenderten plaudernd durch den Weihnachtsmarkt, aßen Langos und während unserer Runden sprachen wir uns aus und verstanden einander prächtig! Ich war und bin so überglücklich!
Freilich hätte es doch auch sein können, dass wir einander nicht sympathisch gewesen wären, oder – was meine Angst war, dass er so befremdlich wäre, dass ich nichts mit ihm anfangen hätte können, geschweige denn konstruktiv hätte mit ihm austauschen können.
Doch so war es nicht! Und dafür bin ich mehr als nur dankbar.
Für jemanden, der mit drei Pflegeschwestern und obendrein ohne Vater aufgewachsen ist, ist es so ein wunderbarer, starker Kontrast, wenn es nach 30 Jahren mit einmal die Nummer seines Bruders (noch dazu LEIBLICHEN) einspeichern darf. Vor allem in der Pubertät fehlte es mir immer so sehr, dass sich alle Freunde, Bekannte und Verwandten darüber austauschten, wie sehr sie sich in ihrem Aussehen den älteren Geschwistern und Eltern anglichen. Ich sah niemandem ähnlich. Blond, Blauäugig, relativ braun gebrannt und schlank, war ich das pure Gegenteil meiner Dunkelhaarigen, Dunkeläugigen, blassen und alle samt sehr korpulenten Pflegefamilie.
Und nun konnte ich endlich in Augen sehen, so strahlend blau wie meine und Witze darüber machen, wie schön es sei, essen zu können was man will, ohne dabei unangenehm zu zu nehmen!
Exakt zwei Wochen später trafen wir uns wieder und dieses Treffen übertraf das erste Treffen total. Wir waren vertrauter und authentischer und wir ließen endlich unseren wahren Humor raus, der sich exakt deckte. Der Abend war soooo lustig, wir haben so viel gelacht und so nett geredet. Schön, einen Bruder zu haben!
Mein Weihnachtsgeschenk an ihn, war ein USB Stick mit allen Bildern vom Vater und sämtlichen unbekannten Verwandten, die mir Vater zu seinen Lebzeiten immer in Form eines selbst zusammen gestellten Fotoalbums gab. Damals wollte ich diese Alben nicht, heute bin ich so froh, sie zu haben. Und sie nun auch mit meinem Bruder teilen zu können (der seine aus Frust in jugendlichen Jahren weg warf) macht diese Erinnerung zu etwas noch schönerem!
Beim 2. Treff beschlossen wir, nur in der Kälte spazieren zu gehen, da es Monatsende (kurz vor Weihnachten) war und wir beide knapp bei Kasse waren. Doch es war schon eine prägende und lustige Situation, als ich meinte, dass ich ja noch ein Rubbellos mit einem 6€ Gewinn in der Tasche habe und wir uns das jetzt holen sollen und das dann auf den “Kopf haun”! Als stünden uns alle Türen offen, so gingen wir mit den 6€ aus der Trafik und suchten uns ein nettes Café. Es wurde das etwas seltsame Café “Art Galeria” in der Zollergasse, weil darin nichts los war und wir in Ruhe reden konnten. Und siehe da, unsere Rechnung kam auf fast exakt die 6€ und der Gewinn für dieses grandiose Treffen unbezahlbar…