Ein Doppelleben?

Mein Fall ist schon ein sonderbarer. Ich lebe nach außen hin ein normales Leben.
Ich habe maturiert, habe verschiedene Studien probiert, bin mit 20 von Zuhause ausgezogen, habe nun seit 4 Jahren eine stabile Beziehung mit der verständnisvollsten und schönsten Frau dieser Welt, habe ein Auto (wenn auch keines, das als Statussymbol durch ginge), habe ein Sozialleben (einen besten Freund, eine gute alte Klassenkollegin, eine Runde von Leuten, mit denen ich hin und wieder abends ausgehe, deren Gründer und Organisator ich sogar bin), habe die Beziehung zu meiner Mutter wieder aufgebaut und etwas kaschiert (nachdem mein Plan war, den Kontakt auf ewig abzubrechen, erkannte ich, dass ich gewisse Vorfälle einfach vergessen/zm. nicht mehr thematisieren werde, um diese Beziehung zu retten, anstatt den Weg des Kontaktabbruches zu gehen).
Sozial falle ich nicht auf. Ich bin freundlich, nett, man sagt charismatisch und habe eine hohe soziale- und verbale Kompetenz. Beim Kennenlernen neuer Leute, bei Bewerbungsgesprächen etc. bekomme ich ausschließlich positives (oder eben gar kein-) Feedback.
Ich habe also „alles“. Mit dem kleinen Unterschied, und der beschämt mich sehr, ich habe keine einschlägige Ausbildung und keinen Job.

Psychologen und Gutachter klopften mir so oft auf die Schulter und meinten, für meine Geschichte habe ich es enorm weit geschafft, aber das zählt für mich nichts. Ich denke immerzu daran, was die Gesellschaft in mir sehen würde, wenn sie wüsste, dass ich Langzeitarbeitsloser bin.
Davon weiß nur meine Freundin, tlw. ihre Familie, meine Familie, mein bester Freund und mein Berater. Inoffiziell bin ich derzeit quasi Hausmann mit Sonderstatus, da mir eine gewisse Pension zugeschrieben wurde. Man kann sich denken, dass dies nicht ohne Grund so festgelegt wurde.
Und dennoch ist es ein furchtbar unangenehmes Gefühl. Vor allem, wenn ich anfange, mich mit anderen zu Vergleichen… Keine Chance.
Obwohl  in meinem Leben, wie gesagt nur der Job/ eine einschlägige Ausbildung fehlt, aber das ist in unserer Gesellschaft eben das, was einen Menschen auszumachen scheint. „Was arbeitest du? Ergo Wer bist du?“
Ich wurde durch viele Tests und Gutachten geschleust, nachdem ich Herbst 2011 versuchte einen buchstäblichen Schlussstrich längs an meinem Unterarm zu ziehen. Ich hatte zuvor von einem Arzt Antidepressiva verschrieben bekommen und hatte an jenem Abend etwas Alkohol getrunken, was in Verbindung mit einem Streit mit einer damaligen „Freundin“ so viel Verzweiflung, gemischt mit einem körperlichen Taubheitsgefühl zu dieser unsinnigen Tat führte. Ich kam auf die Akutstation einer Psychiatrie, wo sich durch die Medikamente, das einsame abgeschottet sein von der Außenwelt und das zusammen geworfen werden mit teilweise wirklich massiv verrückten der Zustand nur noch mehr zu spritzte. Ich entwickelte selbstverletzendes Verhalten und eine Essstörung und verlor jeglichen Bezug zur Realität. Als ich nach 4 Wochen Akutstation wieder entlassen wurde, verbrachte ich meine Wochen mit schreiben, Lieblingsserie schauen, spazieren gehen, half ein wenig in der Arbeit meiner Schwester aus und versoff die Wochenenden, um abzuschalten. Im Neujahr 2012 folgte dann die Langzeittherapie in der Psychiatrie, um wieder in einen geregelten Alltag zu finden. Aber die Betreuer dort machten mich wahnsinnig. Erst wurde man mit Tabletten zu gepumpt, jede Kleinigkeit protokolliert und dann wurde mit einem gesprochen, als wäre man schwer von Begriff. Sprach man dann an, wie man all das empfindet, wurde man erst recht wieder als abnormal diagnostiziert.
2012/ 2013 vergingen und es geschahen noch einige Dinge, die ich in diesem Blog nicht thematisieren werde.
Ab ca. 2014 stabilisierte sich mein Zustand sehr schleichend, aber zunehmend.
Ich kam in meine erste wirklich liebevolle, stabile Beziehung, holte viel aus meiner Vergangenheit auf, arbeitete sehr, sehr hart an mir und an meinem Selbstbild, dem Bild, dass ich von anderen und der Welt hatte und an meiner Chaos-Gefühlswelt. Der Prozess (also die Dinge, die ich nicht thematisieren werde), reichte von 2012 bis 2014 hinein und veränderte sich erst in den Jahren darauf so, dass ich damit leben lernen konnte. Mein teilweise wild gewordener Look, den ich mir zu Psychiatriezeiten aus einer seltsamen und auch meiner einzigen rebellischen Phase meines Lebens zugelegt hatte (schwarz gefärbte, ins Gesicht hängende Haare, Piercings, Fleshtunnel,…) legte ich erst 2014 nach und nach ab. Die Frisur wurde seriöser, die Piercings kamen raus und die gedehnten Ohrläppchen wurden fachärztlich zugenäht.
Ich wollte zurück ins Leben, nun endlich einen Beruf erlernen und etwas tun, vor allem mit meinem „neuen Ich“, dass ich mir die letzten ~2 Jahre hart erarbeitet und erkämpft hatte.

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